Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 11. März 2014

Kapitel 2



Mehrere Stunden war ich ihm aus dem Weg gegangen. Und nun, gegen 21 Uhr, saß ich mit ihm im Taxi. Sebastian hatte ein Zimmer im selben Wohnheim. Ich hatte den Fehler gemacht, nicht neben dem Taxifahrer, sondern auf der Rückbank Platz zu nehmen. Übertrieben neugierig starrte ich aus dem Fenster, obwohl es draußen schon dämmerte und man nicht mehr weit sehen konnte. Aber die Dämmerung war mir trotzdem lieber als eine Unterhaltung mit meinem Kommilitonen. Ich wollte mich nicht gleich zu Beginn mit einem Deutschen anfreunden. Ich hatte schon den Fehler gemacht, meinen Namen preiszugeben.


Und mein linkes Ohr war bereits unter verbalem Dauerbeschuss:

„Ich find das ja toll, dass ich gleich jemanden kennengelernt habe.“ Im Halbdunkel erahnte ich einen Gewerbepark und hier und dort ein Restaurant zwischen viel Wiese.

„Findest du das nicht auch besser, wenn man nicht allein ist?“

„Weiß nicht.“

„Ich war noch nie ein Jahr weg.“

„Mhm.“

„Warst du schon mal ein Jahr weg?“ Der zweite Kreisverkehr.

„Nein.“

„Meine Eltern wollten mal, dass ich ein Jahr während der elften Klasse in die USA gehe. Aber das habe ich dann doch nicht gemacht.“

„Mhm.“ Noch ein Kreisverkehr. Und ein Wald.

„War auch wegen meiner Freundin. Damit die nicht traurig ist.“

„Mhm.“ Ein eingeschossiges Einfamilienhaus hinter einer Hecke.

„Bin eigentlich immer nur mit Josepha verreist.“

„Mhm.“ Und ganz viel Bäume.

„Aber jetzt musste ich einfach mal. Weil das Reisebüro von meinem Papa jetzt auch Reisen nach Frankreich anbieten möchte.“ Und ein Feld.

„Und weil ich ich das Geschäftsfeld mit aufbauen soll und mein Französisch noch verbessern will.“

„Aha.“

„Ich war ein bisschen spät dran. Paris war schon weg. Und Toulouse auch und Lyon. Da war nur noch Pau übrig.“

„Mhm.“

„Aber ist ja auch gut. Mir ist das lieber, wenn das kleiner ist. Da verliert man nicht so schnell die Orientierung.“ Noch ein Kreisverkehr. Auf Sebastians Seite Gewerbehallen.

„Deswegen fahr ich auch nicht gerne nach Berlin rein. Mir ist das immer viel zu laut.“

Wir würden uns blendend verstehen.

„Warum bist du eigentlich nach Pau gegangen?“, wollte er wissen. Weil ich darauf spekulierte, mit meiner Herkunft aus Ostberlin bei Frauen in einer südfranzösischen Kleinstadt leichter punkten zu können als in einer Metropole. Und weil die Tour de France fast jedes Jahr in Pau Station machte, auf dem Weg in die Pyrenäen oder nach deren Durchquerung. Als Jan-Ullrich-Fan wollte ich mir das nicht entgehen lassen.

„Wegen Sex!“

Sebastian verstummte.

„War nur ein Scherz.“

„Ah. Ich hab echt gedacht, du meinst das ernst.“ Meinte ich auch.

„Ich hab immer in einer Großstadt gelebt, jetzt möchte ich mal etwas anderes sehen“, erklärte ich.

„Das ist fein.“ Schon seine Ausdrucksweise verursachte bei mir Gänsehaut. Rechts von uns ein Intermarché mit vorgelagertem Parkplatz. Weitere Shoppingeinrichtungen. Zunehmend Einfamilienhäuser.

„Und was studierst du?“

„Französisch und Politische Bildung.“

„Ah, schön.“

Wir nahmen aus einem weiteren Kreisverkehr die Abfahrt nach Süden. Im Radio liefen französische Chansons.

„Willst du mal meine Freundin sehen?“

„Was?“

„Ob du mal meine Freundin sehen willst? Ich habe Fotos in meinem Portemonnaie.“ Ich wollte nicht. Schließlich hatte ich seine Freundin schon heute Morgen ausgiebig begutachten können.

„Vielleicht später.“ Ich blickte wieder aus dem Fenster.

„Hier, guck mal!“ Sebastian hatte seine Brieftasche geöffnet. Eine ausklappbare Fotoreihe fiel heraus. Offenbar für jedes Jahr ihrer Beziehung ein Porträt. Rechts ging es nach Bayonne. Links nach Toulouse und seltsamerweise ebenfalls nach Bayonne. Geradeaus ins Zentrum. Eingeschossige Häuser mit weißen Mauern. Dann wieder graue, unverputzte Gebäude aus Kieselsteinen.

„Guck mal, das ist Josepha!“

Was bitte schön sollte ich dazu sagen? Bei einem Neugeborenen wäre ein: Ach, wie niedlich! erwartet worden. Aber Josepha war kein Neugeborenes. Wie kommentierte man das Foto einer erwachsenen Frau? Geht doch. Oder: Die würde ich ja gerne mal vernaschen. Wir erreichten Pau. Links von uns eine Pferderennbahn.

„Aha. Das ist also deine Freundin.“

Erneut eine Total-Tankstelle. Genau. Elf Aquitaine hatte in der Region seinen Firmensitz. „Wir sind schon seit sechs Jahren zusammen.“ Einfamilienhäuser hinter mannshohen Mauern. Autohäuser.

„Na, da wird ja dieses Jahr euer letztes sein.“

„Was? Wieso?“ Sebastian stutzte. Auf meiner Seite sah ich die ersten HLM – Sozialbauten mit sechs Etagen. Wir bogen rechts in den Boulevard de Paix ab.

„Wieso wird das unser letztes Jahr sein?“

„Ich sag das nur so. Weil Erasmus-Aufenthalte Beziehungskiller sind. Aber dafür wirst du am Ende mit einer anderen Frau zusammen sein.“ Die meisten Häuser auf meiner Seite hatten jetzt zwei Etagen.

„Aber ich möchte nicht mit einer anderen Frau zusammen sein. Wir lieben uns. Wir haben uns geschworen, wenn ich zurückkomme, dann heiraten wir. Und sie kommt mich auch mehrmals besuchen.“

„Meinetwegen. War nur ein bisschen zugespitzt formuliert. Jedes Paar ist natürlich anders.“

Ich vertiefte mich wieder in den Anblick der abendlichen Stadt. Wir kamen an ein paar Palmen vorbei. Häuser mit Garten. Das erste Gebäude mit elf Geschossen.

„Hast du denn so was schon erlebt?“

„Was?“

„Eine Trennung.“

Darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Melanie ging ihn nichts an.

„Weiß ich nicht.“

„Wie, du weißt es nicht?“ Wieder Elfgeschosser. Und dazwischen flachere Bauten.

„Was weiß ich nicht?“

„Na, ob du schon mal eine Trennung hattest?“

„Das weiß ich schon, aber ich möchte jetzt nicht darüber reden.“

Sebastian schwieg. An einem mit Palmen bestandenen Kreisverkehr bogen wir nach rechts ab: Allée Cathérine de Bourbon. Laternen warfen Licht. Auf dem grünen Mittelstreifen Bäume. Die Gebäude am Straßenrand wichen auf beiden Seiten zurück. Sebastian schwieg weiter.

„Ich will einfach nur aufpassen, dass uns der Taxifahrer nicht bescheißt.“

„Meinst du, der würde so etwas machen?“

„Ja.“

Ich konnte natürlich gar nicht aufpassen, denn ich kannte den Weg nicht. Rechts von uns ein Parkplatz. Dahinter eine Ansammlung von Bauten. War das die Uni? Nach dem nächsten Kreisverkehr rückten die Häuser wieder näher. Die Bäume auf dem Mittelstreifen wuchsen.

„Noch wenige Meter“, erklärte uns der Chauffeur, der die ganze Fahrt über kein Wort von sich gegeben hatte. Wir bogen links ab. Auf beiden Seiten immer mehr Sozialbauten. Lag unser Wohnheim etwa in einer gefährlichen Banlieue? Nach fünfhundert Metern durch - zumindest im Dunkeln - wenig anheimelnde Plattenbauästhetik fuhr der Wagen rechts auf einen Parkplatz, obwohl ein rotes Schild verkündete: Zufahrt nur für Feuerwehr und Krankenwagen.

Auf rissigem, buckligem Asphalt kam unser Fahrzeug schließlich zum Stehen. Auf meiner Seite führten fünf Stufen zum Eingang eines fünfgeschossigen, länglichen Plattenbaus, der sich am offensichtlichen Wohnheim-Parkplatz entlang bis zur Straße zog. Gegenüber von diesem Eingang lag der Zugang zum anderen Gebäudeflügel, der parallel zum ersten verlief, aber nach hinten verschoben war. Beide Teile waren durch einen flachen Arm verbunden, vor dem ein verwaister Fahrradständer auf Aufgaben wartete. Ungepflegte Grünflächen mit dichten Sträuchern säumten die Gebäude. Wild wuchernde Bäume zwischen den Wagen auf dem Parkplatz verliehen der Anlage – zumindest bei diesen Lichtverhältnissen - etwas von einem Urwald. Im rechten Trakt neben der Tür befand sich die Rezeption. Auf dem Mauervorsprung neben der Treppe lümmelten zwei Araber. Clichy-sous-Bois in Miniaturformat.

Vielleicht stammten sie aus einer französischen Vorstadt mit hoher Kriminalitätsrate. Der Größere von beiden trug eine weiße Jogginghose, der kleinere ein Basecap. Außerdem kifften sie. Aber ich wollte mich nicht von meinen Vorurteilen leiten lassen. Mein Rucksack und mein brauner Lederkoffer blieben als Zeugnis meiner Ressentimentfreiheit unten, während Sebastian seine zwei Rucksäcke mit hoch zum Empfang nahm. Oben angekommen, öffnete sich die Automatiktür nicht.

„47256“, rief der Typ in der weißen Jogginghose auf Französisch.


Weil wir nicht reagierten, ergänzte er: „Das ist der Code.“

Vielleicht waren sie doch nicht aus der Banlieue.

„Merci“, bedankten wir uns.

„Vous êtes d’où?“, erkundigt sich der Basecap-Träger nach unserer Herkunft. „Doitschland?“ Er hatte ein breites Lächeln.

„Ja“, antworte Sebastian.

„Nein!“, antwortete ich, denn es ärgerte mich, dass unsere Nationalität so offensichtlich war.

„Ah. Doitschlaaaand. Iiiisch biiin kaputt!“, brüllte er begeistert und sein Kumpel, der ein längliches Gesicht hatte, fügte begeistert hinzu: „Wiiiillst du meeinen Puuuller luuutschän?“


Sebastian war mit dieser Frage sprachlich überfordert. Oder vielleicht einfach nur nicht schlagfertig genug. Darum ergriff ich das Wort und erklärte auf Französisch: „Das mache ich gerne. Am Puller lutschen. Aber erstmal muss ich noch zur Rezeption, meinen Schlüssel holen und auspacken. Danach melde ich mich noch mal bei euch. Ich bringe auch gerne meinen Kumpel mit, damit nicht einer von euch warten muss.“ Sie mussten lachen. Wir verstanden uns prima.

Der Basecap-Träger stellte sich uns als Mehdi vor. Sein Kumpel mit dem länglichen Gesicht hieß Rachid. Er hatte ziemlich schlechte Zähne, vermutlich vom Kiffen. So schnell fand man also Freunde. Obwohl es natürlich eigentlich nur meine Freunde waren, denn ich hatte die richtige Antwort parat gehabt. Aber da es sich um Männer handelte, würde ich sie notfalls auch mit Sebastian teilen.

Am Empfang begrüßte uns eine Frau mit starkem Akzent. Vielleicht kam sie aus Spanien.


„Je vous mets au même étage“, entschied sie, ohne mich zu fragen, ob ich wirklich mit Sebastian auf einem Flur untergebracht sein wollte. „Comme ça, ce sera plus facile.“ Sebastian freute sich. Mir wäre mehr Abstand lieber gewesen, ich traute mich aber nicht, sie zu bitten, Sebastian ein Zimmer am anderen Ende vom Wohnheim zu geben. Wir erhielten den Code fürs Gebäude, einen Zettel, auf dem état des lieux stand, und unsere Schlüssel: Bâtiment B, Erdgeschoss, Zimmer 5 für mich und Zimmer 9 für meinen neuen Freund.

Ende der Woche mehr zu Mehdi, Rachid und der Paloiser Banlieue, am nächsten Dienstag dann der nächste Auszug. 

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