Seit
dem Ende meines Studiums hatte ich nichts mehr von Sebastian gehört.
Sieben geschlagene Jahre. Oder war es noch länger gewesen? So genau
erinnerte ich mich nicht mehr. Erst nimmt man sich vor, den Kontakt
zu halten. Aber bald holt einen der Alltag wieder ein. Eine Weile
bleibt noch das Vorhaben: Man müsste sich doch mal wieder melden.
Aber die Gegenwart ist stärker. Irgendwann bleibt nur noch eine
ferne Vergangenheit. Doch dann plötzlich diese Mail:
Lieber
Markus,
ich
hoffe, du nutzt diese Adresse noch. Unter deiner Telefonnummer habe
ich dich nicht erreicht. Und bei Facebook auch nicht gefunden. Wohnst
du noch in Berlin? Ich schreibe dir, weil ich dieses Jahr (am 1.
Juli) heiraten werde und zwar, du wirst es nicht glauben, in Pau. Und
natürlich habe ich dabei sofort an dich gedacht, auch wenn wir uns
ja aus den Augen verloren haben. Ist sicherlich für dich nicht um
die Ecke, aber vielleicht kannst du es ja einrichten und kommen. Ich
hab Céline, die von hier ist, schon viel von dir erzählt. Natürlich
nur die guten Sachen, nicht unser nächtliches Abenteuer im Parc
Beaumont :-).
Meld
dich doch mal, ob du dir vorstellen kannst, zu unserer Hochzeit zu
kommen. Das wäre fein.
Liebe
Grüße,
Sebastian
PS:
Auf der Hochzeit wartet übrigens eine Überraschung auf dich!
Ich
rechnete in meinem Leben grundsätzlich nicht mehr mit positiven
Überraschungen, sondern nur noch mit schlimmen Krankheiten. Und dass
Sebastian mir nach so langer Zeit schrieb, war noch nicht mal das
Verwunderlichste. Sondern dass er in der kleinen Stadt im Südwesten
Frankreichs heiratete, in der wir gemeinsam 2001/2002 zehn Monate
verbracht hatten. Und dann sogar eine Paloiserin, eine von dort. Wie
hatte er das fertig gebracht? Hatte er mir damals etwas verschwiegen?
War er aus Pau nicht als Single abgereist?
Sofort
hatte ich sie wieder vor Augen: die Orte, die Erfahrungen und die
Menschen, die für ein knappes Jahr der Mittelpunkt meines Lebens
gewesen waren und an die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr
gedacht hatte: das heruntergekommene, baufällige Studentenwohnheim
Cité Corisande d’Andoins, in denen es vor Kakerlaken nur so
wimmelte; das Computerkabinett der Uni, Asyl der ausländischen
Studenten, die sich nach der Heimat sehnten; mein gespanntes
Verhältnis zu den anderen Erasmusstudenten; mein Engagement in der
kommunistischen Studentengewerkschaft; mein Gastspiel als Sänger in
der Black-Islamic-Metal-Band von Roger, dem libertär-revolutionären
Anarchisten; die für Allah missionierenden Marokkaner; meine
Bemühungen, mit einer Französin auszugehen; Claire aus dem Zimmer
nebenan; Marijo aus der dritten Etage; der manisch-depressive
Guillaume; und natürlich: Eva, aus Hamburg. Weshalb hatte ich die
Erinnerungen über so viele Jahre verdrängt? Wieso befanden wir uns
schon im Jahr 2012? Warum spielte all das, was mir damals so
bedeutsam erschienen war, in meinem heutigen Leben keine Rolle mehr?
Und warum wühlte mich die Einladung meines ehemaligen Kommilitonen
trotzdem so auf? Wo doch mit ihm alles so anders, so wenig
verheißungsvoll begonnen hatte. Gerade Sebastian! Wenn ich an unsere
erste Begegnung dachte. Es war plötzlich wieder wie gestern.