Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 25. März 2014

Kapitel 5/2


Marine führte uns zunächst zu den verschiedenen Fakultäten. Unsere würde die literatur- und sprachwissenschaftliche sein, ein dreigeschossiger Bau mit dunklen Gängen und einem Innenhof, durch den sich steinerne Sitzgelegenheiten zogen. Dort sollten wir uns in den nächsten Tagen immatrikulieren, um einen Studentenausweis zu erhalten, und zu Beginn der kommenden Woche mit Hilfe unserer pädagogischen Berater unseren Stundenplan zusammenstellen. Die zweite Station war die Bibliothek des Fachbereichs Recht und Literatur, ein flaches Gebäude, das wie meine Fakultät eine Renovierung bitter nötig hatte. Danach ging es zur naturwissenschaftlichen Bibliothek, um die es nicht besser bestellt war. An das Clous, das Studentenwerk am nördlichen Rand vom Campus, wandte man sich in Wohnangelegenheiten. Wir beschlossen unseren Rundgang mit einem Besuch der drei Mensen, die sich großzügig über das weitläufige, mit großen Wiesen durchsetztes Uni-Areal verteilten, der Cafétéria Arlequin in der rechtswissenschaftlichen Fakultät, der Brasserie La Vague gegenüber der literatur- und sprachwissenschaftlichen Fakultät und dem riesigen Restaurant Universitaire am südlichen Ausläufer, gegenüber vom großen Parkplatz. Das Gespräch mit Marine suchte ich nicht. Sie sollte nicht annehmen, ich hätte die Gruppe ihretwegen  gewechselt. Mein Gegenspieler – der tatsächlich eine italienische Mutter hatte – war plumper:
„Was kann man hier abends machen?“
„Es gibt das Hoegaarden. Da finden Donnerstagabend immer gute Partys statt.“
„Was für Partys?“
„Karaoke-Partys.“
„Ah. Bist du da oft?“ Er sprach wirklich ausgesprochen gut Französisch, fast ohne Akzent.
„Recht oft.“
„Und singst du auch?“
„Eigentlich nicht so.“
„Du singst bestimmt wunderschön.“ Wie billig. Sie musste lachen. Sicherlich, weil ihr dieses plumpe Kompliment unangenehm war.
„Ich komm mir gerne mal anhören, wie du so singst.“
Sie musste wieder lachen. „Ich singe eigentlich nicht.“
„Aber was würdest du denn gerne singen? Liebeslieder? Romantische Lieder? Französische Lieder?“
„Meistens kommen Hits.“
„’I can’t get you out of my mind’ von Kylie Minogue?”
„Nee. Eher französische Hits.“ Sie schüttelte verlegen den Kopf.
„Ich liebe französische Hits.“ Wann würde er seine Arme um sie legen? Am liebsten hätte ich sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Aber ich blieb besser im Hintergrund.
„Und wo gehst du sonst so hin?“
Boulevard des Pyrénées und ins Durango. Das ist eine Disko. Aber ich gehe auch nicht ständig weg.“
„Wohnst du auch im Wohnheim?“
„Nein. Ich habe eine Einzimmerwohnung.“
Wenn sie uns anderen nicht immer wieder auch etwas über die Uni und die Stadt erzählt hätte, dann hätte sie vermutlich die ganze Zeit mit ihm reden müssen.
„Also, ich führe euch jetzt ins Zentrum und zeige euch noch ein paar Ecken, wo man abends ausgehen kann.“ Wir verließen die Uni in Richtung Süden.
„Hier ist das Hoegaarden. Da kann man feiern.“ 

Das Café hatte den Charme einer Autobahnraststätte. Südöstlich vom Hoegaarden standen Plattenbauten, auf der anderen Straßenseite ummauerte oder von riesigen Hecken geschützte Villen. Weiter südlich, auf dem Weg zum Zentrum, überwogen dreistöckige Bauten. Kein Haus war wie das andere. Offenbar hatten die Stadtplaner für jedes Bauwerk einen anderen Architekten gewählt und jeden darüber im Unklaren gelassen, was die Kollegen verzapft hatten. Die Bürgersteige waren schmaler als in Deutschland und oftmals zur Straße abfallend. Immer wieder sah man eine Pferdewettenbar, einen Kiosk mit Kneipe, Restaurants, die tagsüber schlossen, kleine Supermärkte. Wir passierten eine Autowerkstatt, Waschcenter, Boulangerien. Dann ging es hinunter ins Quartier Hédas, dem in einer schmalen und länglichen Senke gelegenen Ausgehviertel für Studenten. Hier wurde Pau das erste Mal hübsch. Hier lag auch das Durango. Dann wieder bergan.
Der Halbitaliener wich nicht von Marines Seite.
„Was läuft im Durango für Musik?“
„Rock und Pop.“
„Cool. Ich mag Rock und Pop. Ich bin ein großer Rock- und Pop-Fan. Magst du auch Rock und Pop?“
„Ja.“ Was hätte sie auch sonst antworten sollen? Sie war unsere Tutorin, sie musste nett zu uns sein.
Ich lief neben Sebastian, der unentwegt jeden Stein fotografierte, aber mich deswegen zumindest nicht zwang, mit ihm Gespräche zu führen. Im Centre Bosquet, einem Einkaufszentrum, gab es eine Fnac-Filiale. Hier in der Innenstadt häuften sich teurere Geschäfte, Versicherungen, Banken. Nach einem Abstecher zum burgähnlichen Schloss Heinrich IV. mündete unsere Tour bei einem Café Crème im Café Russe auf dem Boulevard des Pyrénées. Vor uns lag das Gebirge, das Frankreich von Spanien trennte. Natürlich nahm mein Konkurrent neben Marine Platz. Ich erwischte den Platz auf ihrer anderen Seite.
„Es ist wirklich ein toller Blick hier. Wirklich toll.“ Im Grunde hatte er recht. Aber musste man über so etwas mit einer Frau reden? Wie einfallslos!
„Find ich auch“, stimmte ihm Marine pflichtschuldig zu.
„Da hast du wirklich was Tolles ausgesucht.“ Man konnte auch übertreiben. Den Boulevard steuerte doch jeder Tourist gleich am ersten Tag an.
„Mich erinnert das ein bisschen an Neapel, wo meine Mutter herkommt. Kennst du Neapel?“ Er fing an, ihr von Italien vorzuschwärmen. Ich kam gar nicht zu Wort. Dafür interessierte sich Sebastian nun wieder für mich:
„Findest du das nicht auch herrlich? Da kann man das Wohnheim gleich vergessen. Das ist Frankreich. C’est la vie.“
Der italobritische Flirtkönig wurde immer zudringlicher:
„Hast du italienische Vorfahren?“
„Nein, wieso?“
„Du siehst ein bisschen italienisch aus.“
„Wirklich? Echt?“
„So der Hauttyp. Und wegen deiner braunen Augen.“
„Meine Augen sind aber grün.“ Sie schaute verwundert.
„Aber sie sehen ziemlich braun aus.“ Sie hatte wirklich hübsche Augen. Und er ein hässliches T-Shirt: Cicieta Sportiva Calvio Napoli. Ich kam ja auch nicht mit einem Shirt von Hertha BSC.
Erst bei der Verabschiedung gelang es mir, mich bei Marine nach ihrer Handynummer zu erkundigen. „Falls ich noch Fragen zur Uni hab. Ich hab nämlich nicht alles verstanden vorhin“, log ich. Ich würde mich natürlich nicht sofort bei ihr melden, sondern ein paar Tage verstreichen lassen. Diese Zurückhaltung würde sich wohltuend abheben von der aufdringlichen Art meines Rivalen, der sich die Nummer ebenfalls notierte. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass er bei ihr Chancen hatte.

Ende der Woche mehr zum Café und am Dienstag dann der nächste Auszug vom Roman. 


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