Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 4. März 2014

Kapitel 1

September 2001
Das erste Mal begegnete ich Sebastian am 24. September 2001 in der Schlange vorm Check-in-Schalter 21 A am Flughafen Tegel. Ich wusste natürlich damals noch nicht, wie er hieß. Ich hatte ihn nie vorher gesehen. Er studierte nicht an der Humboldt-Uni. Aber er sprang mir sofort ins Auge, denn er stand mit seiner Freundin eng umschlungen ein paar Leute vor mir in der Abfertigungsreihe. Die Innigkeit ihrer Umarmung ließ eine sehr lange Trennungszeit erahnen. Die beiden ließen mich an ein schiffbrüchiges Pärchen denken, das sich in der Tod bringenden Strömung des kalten Atlantiks verzweifelt aneinanderklammert, um, wenn schon zu ertrinken, wenigstens, anders als Romeo und Julia, synchron das Zeitliche zu segnen. Sebastian überragte seine Freundin um anderthalb Köpfe. Ihre symbiotische Vermählung gestattete ihnen nur ein sehr ungelenkes Vorwärtsrücken. Er musste seine beiden Outdoor-Rucksäcke mit den Füßen in Richtung Gepäckannahme schieben, denn er hatte sich offenbar geschworen, die Frau in seinen Armen bis zur endgültigen Trennung keine Sekunde loszulassen.
Solcher Gefühlsexhibitionismus jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Wie konnte man sich bloß von seiner Freundin zum Flughafen bringen lassen und dann auch noch eine derartige Show abziehen? So etwas Intimes wie Verabschiedungen erledigte ich prinzipiell in den eigenen vier Wänden. Umstehende sollten sich kein Bild davon machen können, wie es um meine Beziehung bestellt war. Und niemand sollte zugegen sein, wenn mir eine Frau eine Szene machte, weil ich sie allein in Berlin zurückließ. Im Herbst 2001 war diese Prinzipienfestigkeit für mich natürlich blanke Theorie, denn ich stürzte mich als Junggeselle in das Abenteuer Frankreich. Ich konnte keine Frau in Deutschland gebrauchen, die mir als Über-Ich vor jedem Abenteuer mit einer Französin Treue und sexuelle Enthaltsamkeit predigte.

Selbst im Moment des Check-in hatte Sebastians Begleitung von hinten ihre Arme um ihn geschlungen. Es war, als wollte sie ihn daran hindern, in sein Verderben zu rennen. Fürchtete sie, ihn ein letztes Mal zu sehen, weil soeben auch zwei Araber hatten einchecken dürfen, obgleich aus den Trümmern des World Trade Centers noch Rauchwolken aufstiegen? Nun konnte ich endlich ihr Gesicht erkennen. Die beiden spielten nicht in derselben Attraktivitätsliga. Während er sportlich und groß gewachsen war und ein ebenmäßiges Gesicht hatte, dem man sofort ansah, dass er viel Zeit an der frischen Luft verbrachte und in einem Milieu aufgewachsen sein musste, das die Widrigkeiten des Lebens erfolgreich von ihm abgeschirmt hatte, fiel sie bestenfalls nicht negativ auf. Weshalb hatte er keine hübschere Freundin? Achtete er nur auf innere Werte? Hatten die Eltern die Beziehung arrangiert? Waren sie schon in der Kita ein Paar gewesen, und er traute sich nicht, sich nach so vielen Jahren von ihr zu trennen? Möglicherweise war einfach gerade keine bessere zur Stelle gewesen.

Viele Menschen taten sich ja mit dem Alleinsein schwer. Um nicht einsam zu sein, gaben sie sich mit Überbrückungspartnern zufrieden. Wenn die leckeren Äpfel am Baum zu hoch hingen, musste man sich eben mit ihren matschigen Artgenossen am Boden begnügen. Und ehe man sich versah, wurde aus einem Überbrückungspartner der Begleiter fürs Leben. Ich hielt nichts von solchen Kompromissen. Entweder eine Frau war die Richtige oder nicht. Darum war ich seit Melanie auch allein geblieben. Es hatte mich an jedem Mädchen irgendetwas gestört. Keines hatte Melanie das Wasser reichen können. Mit keinem hatte ich mehr Zeit verbringen wollen. Aber jetzt würde sich das ändern. Während meines Erasmus-Jahres würde es leichter für mich sein, mich auf Frauen einzulassen. Da ich in Frankreich vor allen Dingen an sexuellen Abenteuern und der Verbesserung meiner Sprachkenntnisse interessiert war, konnte ich in den nächsten zehn Monaten darauf verzichten, zu hohe Anforderungen an den Charakter und die Persönlichkeit der Frauen zu stellen. Wenn man ohnehin nur kurz blieb, brauchte man nicht nach der Liebe fürs Leben zu suchen. Es genügte, wenn eine Frau gut aussah und Französin war. Zudem war es leichter, gegenüber einer Französin tolerant zu sein, da man Meinungsverschiedenheiten immer auf sprachliche Missverständnisse schieben konnte.

Sebastian und seine Freundin küssten einander nun. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, mit einer Überbrückungsfreundin in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten auszutauschen. Angefasst hätte ich sie nur zu Hause, wo uns keiner sah. Umso unbegreiflicher war mir das Verhalten von Sebastian. Ich an seiner Stelle hätte mich von ihr bestenfalls mit einem kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter verabschiedet oder mit einem Hau rein!
Nicht nur ich wunderte mich.

„Schau mal! Jetzt knutscht der die sogar“, lästerte der Mann hinter mir in der Schlange zu seiner Frau.
„Wieso? Die ist doch süß.“
„Wie bitte? Süß? Hast du mal ihr Gesicht gesehen?“
„Was denn? Die ist doch hübsch. Außerdem kann man doch auch auf den Charakter achten.“
„Das sollte aber nicht das Entscheidungskriterium sein. Die strengt sich doch charakterlich sowieso nur an, weil sie weiß, dass sie über ihr Aussehen nichts reißen kann. Für dieses falsche Spiel sollte man sie nicht noch belohnen.“
„Sei doch nicht so fies! Soll das heißen, dass dir mein Charakter egal ist? Dass du nur wegen meines Aussehens mit mir zusammen bist?“
„Ich will’s mal so sagen: Dein Aussehen lässt mich über Defizite in anderen Bereichen hinwegsehen. Man kann nicht alles haben.“
Mir war der Mann sofort sympathisch. Er erhielt von seiner Frau einen vorwurfsvollen Ellenbogenstoß in die Rippen.
„Au! Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass du möchtest, dass ein Typ mit dir wegen deines Charakters zusammen ist!“, verteidigte sich der groß gewachsene, sportliche Mann.
„Natürlich! Ich möchte als Persönlichkeit geliebt werden. Und nicht auf mein Aussehen reduziert.“
„Aber für den Charakter hat man doch Freunde.“
„Haha.“
„War nur ein Scherz. Natürlich ist mir dein Charakter wichtiger.“
„Wie jetzt? Findest du mich hässlich?“
„Hässlich nicht.“
„Okay. Bin ich hübscher oder hässlicher als die da?“ Sie deutete auf Sebastians Freundin.
„Ihr nehmt euch nicht viel.“ Das war gelogen. Sie sah besser aus, stellte ich fest, als ich mich unauffällig umdrehte und sie musterte.
„Was? Du findest mich also hässlich? Das ist so gemein!“
„Wieso denn? Du hast doch selber gesagt, dass sie eigentlich hübsch ist.“
„Ja, aber nicht für dich. Du findest sie doch hässlich.“
So erfrischend der Streit der beiden war, ich konnte mich nicht länger auf die Fortsetzung konzentrieren. Die Vorführung der Liebenden vom Flughafen Tegel war zu packend.

Nachdem Sebastians Rucksäcke aufgegeben waren, setzten er und seine Freundin ihre Abschiedszeremonie fort. Sämtliche Rituale ungebrochener gegenseitiger Hingabe wurden von ihnen in aller Öffentlichkeit ungeniert durchexerziert: tiefer, lang anhaltender, schmachtender Blick in die Augen des anderen; Haare aus dem Gesicht streichen; laute Schmatzer auf den Mund; innige Zungenküsse; Reiben der Körper aneinander; festes Aneinanderklammern; mit den Händen spielen; Arme parallel immer vom Körper weg- und wieder zu diesem hinführen, wobei sich die Handflächen beider berührten; verliebte Worte ins Ohr flüstern, sodass es alle Umstehenden im Umkreis von acht Metern verstanden.

Ich rechnete jeden Moment damit, dass ihre Choreografie in einen Lambada oder erotischen Booty Dance münden würde. Auch andere Schaulustige spekulierten offensichtlich darauf. Einige in der Schlange unterbrachen ihre Zeitungslektüre. Mehrere Frauen hörten auf, ihre die Reise antretenden männlichen Partner zu küssen, weil sie die Verabschiedung von Sebastian und seiner Freundin mehr fesselte. Leute, die gerade zu einem anderen Abfertigungsschalter rannten, blieben gebannt stehen und verpassten ihr Flugzeug. Die ersten zückten ihre Fotoapparate. Aufgrund der Größendifferenz zwischen den beiden hatte man bisweilen den Eindruck, ein Vater liebkose seine minderjährige, sich schutzsuchend an seinen Bauch kuschelnde Tochter. Selbst das Check-in geriet zeitweilig ins Stocken, weil das Air-France-Personal immer wieder abgelenkt wurde.

Nachdem Sebastian überraschenderweise doch in den Warte-Bereich gewechselt war und sich die Automatiktür zwischen beiden geschlossen hatte, war die Abschiedsliturgie noch längst nicht beendet. Umgehend nach dem Passieren des Sicherheitschecks raffte er seine Sachen zusammen - dabei fiel sein Portemonnaie zu Boden - und eilte durch die Bänke, vorbei an den Fluggästen und der Snackbar, im 180-Grad-Bogen zur Scheibe, die die Reisenden von den Zurückbleibenden trennte, um seine rechte Hand gegen das Glas zu drücken. Von draußen presste bereits seine Liebste. Und dann führten sie ihre Lippen ans Glas, um sich ewige Treue zu schwören. Nun unterbrachen auch die letzten Umstehenden ihre Gespräche, um an dieser peinlichen Aufführung ihre Fremdschämtoleranz einem extremen Belastungstest zu unterziehen. An diesem Tag wurden die ersten YouTube-Videos gedreht. Trat ich jetzt an Sebastian heran, um ihm sein Portemonnaie zurückzugeben, das ich aufgehoben hatte, würde ich alles kaputt machen und wäre für die Zuschauer der Buhmann. Ich entschied mich, zunächst noch abzuwarten. Während sich die beiden durch die Scheibe küssten, rief jemand:
„Das macht ihr aber wieder sauber!“ Sebastian überhörte die Bemerkung.
Selbst die beiden Moslems stellten nun ihr Gebet ein. Falls sie bisher noch gezögert hatten, ob sie das Flugzeug wirklich entführen und in ein Hochhaus fliegen lassen sollten - die Anwesenheit von Sebastian an Bord würde ihnen die letzten Skrupel rauben.

Aber vielleicht würde sich dieser auch gleich gegen die Scheibe werfen und sie zum Bersten bringen, um mit seiner Angebeteten, die er nun seit mindestens zwei Minuten nicht mehr in seinen Armen hielt, wieder vereint zu sein und Hand in Hand Richtung Sonnenuntergang zu schreiten. Bedauerlicherweise ließ er es an dieser Konsequenz missen. Er fügte sich schließlich in die Trennung. Brav stellte er sich mit gesenktem Haupt zum Boarding an, die Pfiffe, das Klatschen und die Zugabe-Rufe mehrerer Fluggäste überhörend. Der Ausgang war für alle Zuschauer ziemlich enttäuschend.
„‘tschuldigung. Ich glaub, das ist dein Portemonnaie“, tippte ich ihm von hinten auf die Schulter.
„Ah. Danke! Oh Gott. Das ist fein von dir. Ich bin so aufgeregt. Danke! Wirklich!“
„Kein Problem. Ich stand direkt daneben. Ist noch alles drin. Ich hab nichts rausgenommen. Bis auf das Geld.“
Er guckte irritiert.
„War ein Scherz.“
Seine mimische Anspannung löste sich.
„Möchtest du, dass ich dich vorlasse?“, bot er mir an.
„Nein. Ich muss noch mal auf Toilette“, log ich, denn ich wollte nicht, dass er sich aus Dankbarkeit mit mir unterhielt. Ich entfernte mich. Trotzdem. Von da an hatte er mich auf dem Kieker. Ich sollte meine gute Tat im Laufe des Tages noch bereuen.

Den nächsten Auszug gibt es am kommenden Dienstag, Hintergründe zu diesem Kapitel noch im Laufe dieser Woche.

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