Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 18. März 2014

Kapitel 5/1

In Kapitel 3 lernt Markus sein Wohnheimszimmer kennen, Kapitel 4 beschreibt den Weg vom Wohnheim zur Uni am nächsten Morgen - natürlich in Begleitung von Sebastian -, wo es für die Erasmusstudenten eine Führung durch die Uni und die Paloiser Innenstadt geben wird.

Als wir dreiviertel neun die Présidence der Universität erreichten, einen zweigeschossigen Rundbau mit weißer Fassade und langen Fensterzeilen, warteten bereits an die zwanzig Erasmusstudenten in Grüppchen darauf, von den Franzosen unter die Fittiche genommen zu werden. Soweit ich es beobachten konnte, hatten sie sich brav nach Herkunft sortiert: am Eingang fünf Engländer, Schotten bzw. Iren; einer von ihnen, groß und schlaksig, hatte rot gefärbte Haare, trug eine Cordhose und erinnerte mich ein bisschen an Dirk von Lowtzow. Ein anderer, ein ziemlich kleiner mit rotem Basecap, schien südeuropäische Vorfahren zu haben. Zur selben Clique gehörten noch ein Händchen haltendes Pärchen, sie klein und etwas pummelig, er groß und schlank, beide sehr blasse Haut. Und eine Rothaarige mit Sommersprossen, großen Lippen, tiefem Ausschnitt, der ihren Vorbau betonte, und extrem kurzen Hosen. Unsere Landsleute bestanden nur aus Studentinnen: einer dunkelhaarigen, zierlichen Person; einer übergewichtigen mit lockigen Haaren und Brille; einer Rothaarigen, recht großen; sowie fünf Blondinen. Wir waren die einzigen Jungen aus Deutschland. Zudem gab es zwei braunhaarige Mädchen, deren Herkunft ich nicht identifizieren konnte. Spanierinnen waren sie nicht. Und auch nicht aus Italien. Trotzdem eher Südeuropa. Vielleicht Portugal. Schließlich standen noch vier Studenten beisammen, die sich anschwiegen. Das konnten eigentlich nur Skandinavier sein.
Sebastian steuerte zielstrebig auf Kriemhield, Isolde, Ingeborg, Ute, Sieglinde, Heike, Gudrun - oder wie auch immer sie hießen - zu. Ich hielt ihn zurück.

„Lass uns mal hier bleiben!“ „Wieso denn?“
„Ich will mich nicht mit Deutschen anfreunden.“
Er schaute mich verwundert an.
„Dann entstehen soziale Verpflichtungen, die ich nur schwer wieder loswerde. Ich möchte hier Franzosen kennenlernen“, erklärte ich etwas vage, denn eigentlich wollte ich vor allen Dingen Französinnen kennenlernen. „Um die Sprache zu verbessern. Jeder Kontakt zur Heimat ist da nur hinderlich.“ Mein Kommilitone nickte. „Das stimmt. Da hast du recht“, und blieb bei mir stehen, obwohl er, wenn er den Gedanken zu Ende gedacht hätte, auf Abstand zu mir hätte gehen müssen.

Die Empfangsdelegation bestand aus Madame Lescaud, Marine, Cécile, Aurélie und Marc. Madame Lescaud, eine Frau Anfang vierzig mit kinnlangen, blonden Haaren und weiß gerahmter Brille hieß uns auf Französisch herzlich willkommen und erklärte, dass wir von unseren Tutoren zunächst über den Campus geführt und diese uns anschließend die schönsten Ecken der Stadt zeigen würden. Die Zuteilung zu den Tutoren erfolgte über Abzählen, damit wir neu gemischt und mit Studenten aus verschiedenen Ländern unseren Rundgang beschreiten konnten. Sebastian durfte zu Marine. Mit ihrem Pony und ihrer blassblauen Bluse sah sie zwar ein bisschen brav aus, war aber alles in allem die Hübscheste aus der Runde. Sie hatte schöne Augen. Ich sollte zu Marc. Da wollte ich aber nicht hin. Denn der unsicher wirkende Kerl, der die ganze Zeit auf den Boden schaute, war unattraktiver als Marine und obendrein ein Junge.

„Je peux changer de groupe? – Kann ich die Gruppe wechseln?“, wandte ich mich an Madame Lescaud. Ich war nicht der Einzige, der mit der Zuteilung nicht zufrieden war. Der mediterrane Engländer, der auch bei Marc gelandet war, hatte offenbar ebenfalls bereits ein Auge auf Marine geworfen.
„Pourquoi?“, erkundigte sich Madame Lescaud nach dem Grund meines Ansinnens. „Je veux être avec mon ami Sebastian. Je fais tout avec lui“, erhob ich meinen Berliner Kommilitonen kurzerhand zu meinem engsten Freund. Diese Bemerkung kostete mich sehr viel Überwindung. Wahrscheinlich würde ich sie noch bereuen. Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Madame Lescaud verdrehte die Augen. Mein Nebenbuhler kopierte mich einfach.

„Je veux aussi être avec ma petite-copine. C’est celle-là“, gab er die pummelige Engländerin aus Marines Gruppe, die soeben noch die Hand ihres schlaksigen Typen gehalten hatte, als seine Freundin aus. Diese schien nicht zu verstehen.
 „Die Gruppen sollen aber ungefähr gleich groß sein. Ein paar Stunden werden Sie sich von Ihrer Freundin und Sie von Ihrem Freund doch wohl trennen können!“ Galten Sebastian und ich mittlerweile als schwules Pärchen?

Mein Konkurrent und ich schüttelten den Kopf. Der Mezzogiorno-Brite schlug der Engländerin in Marines Gruppe, zu der er eigentlich hatte wechseln wollen, vor, mit ihm zu tauschen, damit sie wieder mit ihrem Freund zusammen war. Sie willigte ein. Eine absurde Aktion. Nun hätte ich gleich noch Sebastian bitten können, mir ebenfalls seinen Platz zu überlassen. Doch Madame Lescaud schüttelte nur entnervt den Kopf. „Meinetwegen!“ Sebastian freute sich.

 Am nächsten Dienstag gibt es den Fortgang im Duell zwischen Markus und dem Italiener um die Gunst Marines (zweiter Teil vom dritten Kapitel), Ende dieser Woche ein paar Photo-Impressionen aus dem Wohnheim.

3 Kommentare:

  1. Freue mich schon auf das Buch! Wann kommt das nochmal?

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  2. Am 2. Juni kommt das Buch. Am 11. Juni ist die Buchpremiere.

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    1. Wunderbar, dann hab ich ja für meine Reise nach Frankreich direkt was zum Lesen. :)

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