Die Erasmus-Party war kein Erfolg, also ging es für Markus allein zurück ins Wohnheim, wenn auch mit Zwischenstopp.
Bis
zum Wohnheim waren es bestimmt 45 Minuten. Vor dem Méliès, Paus
einzigem Programmkino, einem grauen Gebäude, optisch eine Mischung
aus Anglikaner-Kirche und Parkhaus, warteten etwa ein Dutzend Leute.
Die Spätvorstellungen hatten noch nicht begonnen. „No man’s
land“ von Danis
Tanović in Kino 1
und in Kino 2 „Le pornographe“ von Bertrand Bonello. Den
bosnischen Streifen hatte ich vor zwei Tagen bereits mit Sebastian
gesehen. Es war erst dreiviertel elf. Ich wollte eigentlich nach
dieser frustrierenden Party nicht schon zurück ins Wohnheim.
Andererseits, wie verzweifelt war das denn, wenn ich in einen Film
ging, der „Der Pornograph“ hieß? Die meisten Besucher waren
sicherlich wegen „No man's land“ hier. Mit wem würde ich mir den
Saal teilen müssen? Mit einer Handvoll alleinstehender Männer, die
ihre besten Jahre schon hinter sich hatten und gar nicht mehr
wussten, wie man Sex überhaupt schrieb? Andererseits bewiesen die
Fotos im Schaukasten: Es gab in „Le pornographe“ tatsächlich
Nacktszenen. Wann hatte ich das letzte Mal eine weibliche Person
unbekleidet gesehen? Ich stellte mich erstmal an. Vorsorglich. Einen
Rückzieher konnte ich immer noch machen. Am Ticketschalter saß eine
Frau. Bei ihr hätte ich meinen Ruf als Perverser mit Sicherheit weg.
Gerade eine Woche in der Stadt und schon das erste Mal in einem
Pornofilm. Warum zeigte man den eigentlich in einem Programmkino? Vor
mir stand ein mittelalter Herr. Der wollte bestimmt auch dahin. Er
entsprach dem Bild, das ich mir von Besuchern eines Puffs machte:
klein, bebrillt und glatzköpfig, also ich in zwanzig Jahren. Seit
meiner Ankunft vor einigen Tagen fielen mir die Haare aus. Roch er
nicht auch seltsam? Wahrscheinlich würde er während der Vorführung
heimlich onanieren. Sicher war ich gleich umringt von sexuell
frustrierten, bemitleidenswerten Kerlen aus dem unteren
Attraktivitätssegment, die alle, sobald auf der Leinwand die erste
Brustwarze zu sehen war, synchron ihr Glied hervorholten.
Wenigstens
stand ich hinter dem Typen. Am Schalter konnte ich sagen: Ich
nehme das gleiche. So würde das Pärchen nach mir nicht
erfahren, was ich mir ansah. Es reichte, wenn ich bei der
Ticketverkäuferin auf die schwarze Liste kam. Sollte ich mir noch
schnell eine Erklärung für sie zurechtlegen, falls sie mich zur
Rede stellte und wissen wollte, wieso ich einen so schweinischen Film
schaute? ‚No man’s land‘ habe ich schon gesehen, darum gehe
ich heute in einen Erotikfilm. Oder: Mich interessiert nur die
Handlung. Bei den Sexszenen gucke ich nicht hin.
Mist!
Gleich war ich an der Reihe. Selbst wenn sie sich nichts anmerken
lassen würde, ihren Teil denken würde sie sich in jedem Fall. Jetzt
bestellte der Typ vor mir: „Deux fois ‚No man’s land‘.“
Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht nur, dass er eine Begleitung
hatte, er wählte auch noch den anderen Film! Jetzt konnte ich nicht
mal das gleiche nehmen.
Ich trat zur Seite und ließ das Pärchen vor. Sie wollten ebenfalls
zu Tanović.
Ich ließ noch einen Besucher vor. Auch der wollte in „No man’s
land“, obwohl er ebenfalls gut zum anderen Film gepasst hätte. Ich
gab mir einen Ruck.
„Un
billet pour l’autre film. – Eine Karte für den anderen Film“,
murmelte ich.
„Den
anderen Film?“, wunderte sich die Frau an der Kasse. „Kino 2“,
flüsterte ich.
„Also
einmal ‚Le pornographe‘?“, vergewisserte sie sich für alle
vernehmbar. Ich wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken.
Sie musterte mich spöttisch. Erwartete sie, dass ich ihr versprach,
nicht zu onanieren?
„Da
sind aber Nacktszenen drin“, warnte sie.
„Ach
so …“, stammelte ich. „Äh, ja ... wieso? Wieso sagen Sie mir
das?“
„Bist
du denn schon achtzehn?“, musterte sie mich streng.
„Äh,
ja. Dreiundzwanzig.“
„Kannst
du mir deinen Schülerausweis zeigen?“
„Meinen
Schülerausweis? Wieso?“
„War
nur ein Spaß.“ Sie lachte. „Der Film braucht dir nicht peinlich
zu sein. Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“
„Das
ist mir nicht peinlich“, stritt ich alles ab.
Ich
erhielt meine Karte und trat zur Seite. Der Frau hinter mir erklärte:
„Ich möchte auch in den Film, in den der junge Mann vor mir
möchte. Ich bin aber schon über 18. Hier mein Seniorenticket.“
Ich
flüchtete in den Kinosaal, in dem das Publikum deutlich weniger
homogen war, als ich befürchtet hatte. Ich befand mich nicht
ausschließlich in Gesellschaft solo erschienener männlicher
Besucher zwischen 40 und 50 im Singlestatus, sondern eines gemischten
Publikums. Es gab Männer um die 30, es gab Frauen und sogar Pärchen.
Und „Le pornographe“ war entgegen meiner Erwartung auch kein
Sexfilm, sondern die Geschichte eines alternden Pornoregisseurs in
einer Sinn- und Schaffenskrise. Einerseits war ich erleichtert,
andererseits auch irgendwie enttäuscht, denn die wenigen Nacktszenen
waren nicht wirklich erotisch. Sie zeigten den Protagonisten dabei,
wie er daran scheiterte, eine gute Sexszene zu drehen. Bevor man als
Zuschauer in Stimmung kam, kleideten sich die Darsteller wieder an.
Die meiste Zeit lief der Regisseur mit in den Hosentaschen
vergrabenen Händen und tiefen Furchen auf der Stirn über die
Leinwand und gab banale, sinnfreie Sprüche von sich, die seiner
Midlife-Crisis sprachlich Ausdruck verleihen sollten. Selbst wenn ich
vorgehabt hätte zu onanieren, hätte ich es nicht geschafft. Es war
so langweilig und künstlich. Ich verließ den Film schon kurz vor
dem Ende. Wenige Minuten nach eins erreichte ich das Wohnheim.
„Ah,
Marküs. Iiieesch bin kaput. Wiielst du meinen Puller lutschen?“
Rachid saß kiffend auf seinem Fensterbrett im zweiten Stock vom
Bâtiment A. Aus seinem Zimmer schallte französischer Hip-Hop ins
Freie. Ob er sich irgendwann merken würde, dass man meinen Namen
nicht Marküs aussprach? Ich hatte es ihm bestimmt schon fünfmal
gesagt.
„Wo
warst du?“, fragte er.
„In
einem Pornofilm.“
Er
musste lachen. Er hielt alles, was ich sagte, für einen Witz. Dabei
war mein Abend gar nicht lustig gewesen, sondern total ernüchternd.
Ich
winkte noch einmal, dann tippe ich meinen Code ein. Als ich die Tür
geöffnet hatte, platzte mir fast das Trommelfell. Jemand
telefonierte.
Afo
bu mgbe onye ha na kpo huru ebe hé liri Tutankhamun ... Es war
nicht Sebastian, sondern meine schwarzafrikanische Nachbarin im
blauen Jogginganzug. Sie feuert ihre Syntaxkaskaden nicht nur in
einer Lautstärke ab, die die dünnen Gemäuer des Wohnheims
erzittern ließ, sondern auch in einer Geschwindigkeit, die es mir
unmöglich machte zu erkennen, ob sie Französisch, Englisch oder
irgendeinen afrikanischen Dialekt sprach. Wahrscheinlich letzteres.
Warum telefonierte sie um diese Zeit? Gab es eine Zeitverschiebung?
Und warum schrie sie so? War die Verbindung so schlecht? Oder stritt
sie sich mit ihrem Freund daheim? Ich ging auf Toilette, dann auf
mein Zimmer. Der Abend war ein totaler Reinfall. Vielleicht sollte
ich doch langsam mal Marine anrufen. Vielleicht hatte der
Italoengländer sich heute mit ihr getroffen. Vielleicht war er
deswegen nicht erschienen.
Weiter geht es am Wochenende.
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