Mehrere
Stunden war ich ihm aus dem Weg gegangen. Und nun, gegen 21 Uhr, saß ich mit
ihm im Taxi. Sebastian hatte ein Zimmer im selben Wohnheim. Ich hatte den
Fehler gemacht, nicht neben dem Taxifahrer, sondern auf der Rückbank Platz zu
nehmen. Übertrieben neugierig starrte ich aus dem Fenster, obwohl es draußen
schon dämmerte und man nicht mehr weit sehen konnte. Aber die Dämmerung war mir
trotzdem lieber als eine Unterhaltung mit meinem Kommilitonen. Ich wollte mich
nicht gleich zu Beginn mit einem Deutschen anfreunden. Ich hatte schon den
Fehler gemacht, meinen Namen preiszugeben.
Und mein linkes Ohr war bereits unter verbalem
Dauerbeschuss:
„Ich find das ja toll, dass ich gleich jemanden
kennengelernt habe.“ Im Halbdunkel erahnte ich einen Gewerbepark und hier und
dort ein Restaurant zwischen viel Wiese.
„Findest du das nicht auch besser, wenn man
nicht allein ist?“
„Weiß nicht.“
„Ich war noch nie ein Jahr weg.“
„Mhm.“
„Warst du schon mal ein Jahr weg?“ Der zweite
Kreisverkehr.
„Nein.“
„Meine Eltern wollten mal, dass ich ein Jahr
während der elften Klasse in die USA gehe. Aber das habe ich dann doch nicht
gemacht.“
„Mhm.“ Noch ein Kreisverkehr. Und ein Wald.
„War auch wegen meiner Freundin. Damit die nicht
traurig ist.“
„Mhm.“ Ein eingeschossiges Einfamilienhaus
hinter einer Hecke.
„Bin eigentlich immer nur mit Josepha verreist.“
„Mhm.“ Und ganz viel Bäume.
„Aber jetzt musste ich einfach mal. Weil das
Reisebüro von meinem Papa jetzt auch Reisen nach Frankreich anbieten möchte.“
Und ein Feld.
„Und weil ich ich das Geschäftsfeld mit aufbauen
soll und mein Französisch noch verbessern will.“
„Aha.“
„Ich war ein bisschen spät dran. Paris war schon
weg. Und Toulouse auch und Lyon. Da war nur noch Pau übrig.“
„Mhm.“
„Aber ist ja auch gut. Mir ist das lieber, wenn
das kleiner ist. Da verliert man nicht so schnell die Orientierung.“ Noch ein
Kreisverkehr. Auf Sebastians Seite Gewerbehallen.
„Deswegen fahr ich auch nicht gerne nach Berlin
rein. Mir ist das immer viel zu laut.“
Wir würden uns blendend verstehen.
„Warum bist du eigentlich nach Pau gegangen?“,
wollte er wissen. Weil ich darauf spekulierte, mit meiner Herkunft aus
Ostberlin bei Frauen in einer südfranzösischen Kleinstadt leichter punkten zu
können als in einer Metropole. Und weil die Tour de France fast jedes Jahr in
Pau Station machte, auf dem Weg in die Pyrenäen oder nach deren Durchquerung.
Als Jan-Ullrich-Fan wollte ich mir das nicht entgehen lassen.
„Wegen Sex!“
Sebastian verstummte.
„War nur ein Scherz.“
„Ah. Ich hab echt gedacht, du meinst das ernst.“
Meinte ich auch.
„Ich hab immer in einer Großstadt gelebt, jetzt
möchte ich mal etwas anderes sehen“, erklärte ich.
„Das ist fein.“ Schon seine Ausdrucksweise
verursachte bei mir Gänsehaut. Rechts von uns ein Intermarché mit vorgelagertem Parkplatz. Weitere
Shoppingeinrichtungen. Zunehmend Einfamilienhäuser.
„Und was studierst du?“
„Französisch und Politische Bildung.“
„Ah, schön.“
Wir nahmen aus einem weiteren Kreisverkehr die
Abfahrt nach Süden. Im Radio liefen französische Chansons.
„Willst du mal meine Freundin sehen?“
„Was?“
„Ob du mal meine Freundin sehen willst? Ich habe
Fotos in meinem Portemonnaie.“ Ich wollte nicht. Schließlich hatte ich seine
Freundin schon heute Morgen ausgiebig begutachten können.
„Vielleicht später.“ Ich blickte wieder aus dem
Fenster.
„Hier, guck mal!“ Sebastian hatte seine
Brieftasche geöffnet. Eine ausklappbare Fotoreihe fiel heraus. Offenbar für
jedes Jahr ihrer Beziehung ein Porträt. Rechts ging es nach Bayonne. Links nach
Toulouse und seltsamerweise ebenfalls nach Bayonne. Geradeaus ins Zentrum.
Eingeschossige Häuser mit weißen Mauern. Dann wieder graue, unverputzte Gebäude
aus Kieselsteinen.
„Guck mal, das ist Josepha!“
Was bitte schön sollte ich dazu sagen? Bei einem
Neugeborenen wäre ein: Ach, wie niedlich! erwartet worden. Aber Josepha
war kein Neugeborenes. Wie kommentierte man das Foto einer erwachsenen Frau? Geht
doch. Oder: Die würde ich ja gerne mal vernaschen. Wir erreichten
Pau. Links von uns eine Pferderennbahn.
„Aha. Das ist also deine Freundin.“
Erneut eine Total-Tankstelle. Genau. Elf
Aquitaine hatte in der Region seinen Firmensitz. „Wir sind schon seit sechs
Jahren zusammen.“ Einfamilienhäuser hinter mannshohen Mauern. Autohäuser.
„Na, da wird ja dieses Jahr euer letztes sein.“
„Was? Wieso?“ Sebastian stutzte. Auf meiner
Seite sah ich die ersten HLM – Sozialbauten mit sechs Etagen. Wir bogen rechts
in den Boulevard de Paix ab.
„Wieso wird das unser letztes Jahr sein?“
„Ich sag das nur so. Weil Erasmus-Aufenthalte
Beziehungskiller sind. Aber dafür wirst du am Ende mit einer anderen Frau
zusammen sein.“ Die meisten Häuser auf meiner Seite hatten jetzt zwei Etagen.
„Aber ich möchte nicht mit einer anderen Frau
zusammen sein. Wir lieben uns. Wir haben uns geschworen, wenn ich zurückkomme,
dann heiraten wir. Und sie kommt mich auch mehrmals besuchen.“
„Meinetwegen. War nur ein bisschen zugespitzt
formuliert. Jedes Paar ist natürlich anders.“
Ich vertiefte mich wieder in den Anblick der
abendlichen Stadt. Wir kamen an ein paar Palmen vorbei. Häuser mit Garten. Das
erste Gebäude mit elf Geschossen.
„Hast du denn so was schon erlebt?“
„Was?“
„Eine Trennung.“
Darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Melanie
ging ihn nichts an.
„Weiß ich nicht.“
„Wie, du weißt es nicht?“ Wieder Elfgeschosser.
Und dazwischen flachere Bauten.
„Was weiß ich nicht?“
„Na, ob du schon mal eine Trennung hattest?“
„Das weiß ich schon, aber ich möchte jetzt nicht
darüber reden.“
Sebastian schwieg. An einem mit Palmen
bestandenen Kreisverkehr bogen wir nach rechts ab: Allée Cathérine de Bourbon. Laternen warfen Licht. Auf dem
grünen Mittelstreifen Bäume. Die Gebäude am Straßenrand wichen auf beiden
Seiten zurück. Sebastian schwieg weiter.
„Ich will einfach nur aufpassen, dass uns der
Taxifahrer nicht bescheißt.“
„Meinst du, der würde so etwas machen?“
„Ja.“
Ich konnte natürlich gar nicht aufpassen, denn
ich kannte den Weg nicht. Rechts von uns ein Parkplatz. Dahinter eine
Ansammlung von Bauten. War das die Uni? Nach dem nächsten Kreisverkehr rückten
die Häuser wieder näher. Die Bäume auf dem Mittelstreifen wuchsen.
„Noch
wenige Meter“, erklärte uns der Chauffeur, der die ganze Fahrt über kein Wort
von sich gegeben hatte. Wir bogen links ab. Auf beiden Seiten immer mehr
Sozialbauten. Lag unser Wohnheim etwa in einer gefährlichen Banlieue? Nach fünfhundert
Metern durch - zumindest im Dunkeln - wenig anheimelnde Plattenbauästhetik fuhr
der Wagen rechts auf einen Parkplatz, obwohl ein rotes Schild verkündete: Zufahrt
nur für Feuerwehr und Krankenwagen.
Auf
rissigem, buckligem Asphalt kam unser Fahrzeug schließlich zum Stehen. Auf
meiner Seite führten fünf Stufen zum Eingang eines fünfgeschossigen, länglichen
Plattenbaus, der sich am offensichtlichen Wohnheim-Parkplatz entlang bis zur
Straße zog. Gegenüber von diesem Eingang lag der Zugang zum anderen Gebäudeflügel,
der parallel zum ersten verlief, aber nach hinten verschoben war. Beide Teile
waren durch einen flachen Arm verbunden, vor dem ein verwaister Fahrradständer
auf Aufgaben wartete. Ungepflegte Grünflächen mit dichten Sträuchern säumten
die Gebäude. Wild wuchernde Bäume zwischen den Wagen auf dem Parkplatz
verliehen der Anlage – zumindest bei diesen Lichtverhältnissen - etwas von
einem Urwald. Im rechten Trakt neben der Tür befand sich die Rezeption. Auf dem
Mauervorsprung neben der Treppe lümmelten zwei Araber. Clichy-sous-Bois
in Miniaturformat.
Vielleicht
stammten sie aus einer französischen Vorstadt mit hoher Kriminalitätsrate. Der
Größere von beiden trug eine weiße Jogginghose, der kleinere ein Basecap.
Außerdem kifften sie. Aber ich wollte mich nicht von meinen Vorurteilen leiten
lassen. Mein Rucksack und mein brauner Lederkoffer blieben als Zeugnis meiner
Ressentimentfreiheit unten, während Sebastian seine zwei Rucksäcke mit hoch zum
Empfang nahm. Oben angekommen, öffnete sich die Automatiktür nicht.
„47256“,
rief der Typ in der weißen Jogginghose auf Französisch.
Weil wir nicht reagierten, ergänzte er: „Das ist der Code.“
Vielleicht
waren sie doch nicht aus der Banlieue.
„Merci“,
bedankten wir uns.
„Vous êtes
d’où?“, erkundigt sich der Basecap-Träger nach unserer Herkunft. „Doitschland?“
Er hatte ein breites Lächeln.
„Ja“,
antworte Sebastian.
„Nein!“,
antwortete ich, denn es ärgerte mich, dass unsere Nationalität so
offensichtlich war.
„Ah.
Doitschlaaaand. Iiiisch biiin kaputt!“, brüllte er begeistert und sein Kumpel,
der ein längliches Gesicht hatte, fügte begeistert hinzu: „Wiiiillst du meeinen
Puuuller luuutschän?“
Sebastian war mit dieser Frage sprachlich überfordert. Oder vielleicht einfach nur nicht schlagfertig genug. Darum ergriff ich das Wort und erklärte auf Französisch: „Das mache ich gerne. Am Puller lutschen. Aber erstmal muss ich noch zur Rezeption, meinen Schlüssel holen und auspacken. Danach melde ich mich noch mal bei euch. Ich bringe auch gerne meinen Kumpel mit, damit nicht einer von euch warten muss.“ Sie mussten lachen. Wir verstanden uns prima.
Der
Basecap-Träger stellte sich uns als Mehdi vor. Sein Kumpel mit dem länglichen
Gesicht hieß Rachid. Er hatte ziemlich schlechte Zähne, vermutlich vom Kiffen.
So schnell fand man also Freunde. Obwohl es natürlich eigentlich nur meine
Freunde waren, denn ich hatte die richtige Antwort parat gehabt. Aber da es
sich um Männer handelte, würde ich sie notfalls auch mit Sebastian teilen.
Am Empfang
begrüßte uns eine Frau mit starkem Akzent. Vielleicht kam sie aus Spanien.
„Je vous mets au même étage“, entschied sie, ohne mich zu fragen, ob ich wirklich mit Sebastian auf einem Flur untergebracht sein wollte. „Comme ça, ce sera plus facile.“ Sebastian freute sich. Mir wäre mehr Abstand lieber gewesen, ich traute mich aber nicht, sie zu bitten, Sebastian ein Zimmer am anderen Ende vom Wohnheim zu geben. Wir erhielten den Code fürs Gebäude, einen Zettel, auf dem état des lieux stand, und unsere Schlüssel: Bâtiment B, Erdgeschoss, Zimmer 5 für mich und Zimmer 9 für meinen neuen Freund.
Ende der Woche mehr zu Mehdi, Rachid und der Paloiser Banlieue, am nächsten Dienstag dann der nächste Auszug.
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