Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 25. Februar 2014

Prolog

Seit dem Ende meines Studiums hatte ich nichts mehr von Sebastian gehört. Sieben geschlagene Jahre. Oder war es noch länger gewesen? So genau erinnerte ich mich nicht mehr. Erst nimmt man sich vor, den Kontakt zu halten. Aber bald holt einen der Alltag wieder ein. Eine Weile bleibt noch das Vorhaben: Man müsste sich doch mal wieder melden. Aber die Gegenwart ist stärker. Irgendwann bleibt nur noch eine ferne Vergangenheit. Doch dann plötzlich diese Mail:

Lieber Markus,
ich hoffe, du nutzt diese Adresse noch. Unter deiner Telefonnummer habe ich dich nicht erreicht. Und bei Facebook auch nicht gefunden. Wohnst du noch in Berlin? Ich schreibe dir, weil ich dieses Jahr (am 1. Juli) heiraten werde und zwar, du wirst es nicht glauben, in Pau. Und natürlich habe ich dabei sofort an dich gedacht, auch wenn wir uns ja aus den Augen verloren haben. Ist sicherlich für dich nicht um die Ecke, aber vielleicht kannst du es ja einrichten und kommen. Ich hab Céline, die von hier ist, schon viel von dir erzählt. Natürlich nur die guten Sachen, nicht unser nächtliches Abenteuer im Parc Beaumont :-).
Meld dich doch mal, ob du dir vorstellen kannst, zu unserer Hochzeit zu kommen. Das wäre fein.
Liebe Grüße,
Sebastian
PS: Auf der Hochzeit wartet übrigens eine Überraschung auf dich!

Ich rechnete in meinem Leben grundsätzlich nicht mehr mit positiven Überraschungen, sondern nur noch mit schlimmen Krankheiten. Und dass Sebastian mir nach so langer Zeit schrieb, war noch nicht mal das Verwunderlichste. Sondern dass er in der kleinen Stadt im Südwesten Frankreichs heiratete, in der wir gemeinsam 2001/2002 zehn Monate verbracht hatten. Und dann sogar eine Paloiserin, eine von dort. Wie hatte er das fertig gebracht? Hatte er mir damals etwas verschwiegen? War er aus Pau nicht als Single abgereist?

Sofort hatte ich sie wieder vor Augen: die Orte, die Erfahrungen und die Menschen, die für ein knappes Jahr der Mittelpunkt meines Lebens gewesen waren und an die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gedacht hatte: das heruntergekommene, baufällige Studentenwohnheim Cité Corisande d’Andoins, in denen es vor Kakerlaken nur so wimmelte; das Computerkabinett der Uni, Asyl der ausländischen Studenten, die sich nach der Heimat sehnten; mein gespanntes Verhältnis zu den anderen Erasmusstudenten; mein Engagement in der kommunistischen Studentengewerkschaft; mein Gastspiel als Sänger in der Black-Islamic-Metal-Band von Roger, dem libertär-revolutionären Anarchisten; die für Allah missionierenden Marokkaner; meine Bemühungen, mit einer Französin auszugehen; Claire aus dem Zimmer nebenan; Marijo aus der dritten Etage; der manisch-depressive Guillaume; und natürlich: Eva, aus Hamburg. Weshalb hatte ich die Erinnerungen über so viele Jahre verdrängt? Wieso befanden wir uns schon im Jahr 2012? Warum spielte all das, was mir damals so bedeutsam erschienen war, in meinem heutigen Leben keine Rolle mehr? Und warum wühlte mich die Einladung meines ehemaligen Kommilitonen trotzdem so auf? Wo doch mit ihm alles so anders, so wenig verheißungsvoll begonnen hatte. Gerade Sebastian! Wenn ich an unsere erste Begegnung dachte. Es war plötzlich wieder wie gestern.

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