Weil es Anfragen gab, hier die Geschichte, die ich bei der letzten Chaussee-Veranstaltung gelesen habe. Den Text zum Lied gibt es nächste Woche.
Frauen
Auch wenn ich Frauen nun schon praktisch mein Leben lang kenne. Ich kann ihnen nicht vertrauen. Ich kann nicht glauben, dass sie ehrlich zu mir sind, wenn sie sich an mir interessiert zeigen. Zu verletzend sind die Erfahrungen, die ich mit ihnen gemacht habe. Oder eigentlich war es nur eine Frau, eine 17jährige, Nina.
Gardis, eine Freundin, die ich ein Jahr zuvor auf Korsika kennengelernt hatte, feierte Ende Dezember 1996 in einem nicht sanierten Haus in der Danziger Straße Geburtstag. Damals war das in Ostberlin natürlich kein Merkmal, auf das man extra hinweisen musste. Die Danziger hieß ja auch noch Dimitroffstraße. Es wäre eher eine Erwähnung wert gewesen, hätten wir in einem nichtsanierten Haus gefeiert. Wir waren nicht viele, aber die Geschlechterproportionen stimmten. Außer mir noch mein Kumpel Martin aufseiten der Jungs. Und dann eben Gardis, Nina, Kerstin, Claudia, Nicole, Konny, Melanie, Sandra, Maike und Katja. Genau kann ich mich an den Verlauf der Party nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich, da Martin mit Konny liiert war, als einziger anwesender Junge keine Freundin hatte. Und dass ich mich irgendwann mit Nina unterhielt. Es war geradezu unwirklich?
Wieso gab sich Nina, das unbestritten schönste Mädchen des Abends, mit mir ab? Was hatte ich an mir, was die anderen Mädchen nicht hatten?
In meinem bisherigen Leben konnte ich nicht nur auf einen sehr überschaubaren Erfahrungsschatz zurückblicken, wenn es darum ging, mit einer Person, die kein Mann war, vom Platonischen ins Reich des Eros zu wechseln. Laut meiner Mutter hatte im meinem ersten Kindergartenjahr die zweijährige Doren mal mit mit geflirtet. Danach hatte mein sexueller Erfolg bei Frauen aber dramatisch nachgelassen. Ich hatte in den Jahren danach immerhin gelernt, wie man eine Abfuhr so verarbeitet, dass die Psychohygiene kaum in Mitleidenschaft gezogen wird. Auf die Aufmerksamkeit von Nina war ich hingegen gar nicht vorbereitet.
Sie verhielt sich auch sonst seltsam. Die ganze Zeit lachte sie über das, was ich erzählte und versicherte mir: „Stephan, du bist so lustig.“ Ich war total überfordert. Was meinte sie mit lustig? Komisch? Ulkig? Tollpatschig? Und warum streichelte sie mir dabei immer wieder über den Arm? Hatte ich Fussel am Pullover? Ich schaute immer wieder auf meinen Ärmel, konnte aber nichts erkennen. Mein Arm schien nicht das einzige an mir, das sie störte. Wiederholt nahm sie eine Strähne von mir aus dem Gesicht, ich trug die Haare damals noch offen, und legte sie hinter meinem Ohr ab. Offensichtlich widerte sie der Anblick von Strähnen im Gesicht eines männlichen Gesprächspartners an. Ich wagte es nicht, sie darauf anzusprechen. Und so erklärte sie mir irgendwann ganz plötzlich: „Stephan! Ich hab keinen Freund.“ Da rang ich erstmal nach Worten. Ich hatte doch gerade über den Eurofighter gesprochen. Wieso brachte sie mich so aus dem Konzept? Wollte sie mich testen? Was konnte ich dann darauf antworten? Ich hatte ja einen Freund, Martin. Aber das meinte sie sicherlich nicht. Und so antwortete ich zur Sicherheit erstmal: „Also, jedenfalls, ein Eurofighter kostet ja 80 Mio DM. Weißt du, wie viele Lehrer man dafür einstellen könnte?“ Das wusste sie nicht. Ich hatte es leider auch vergessen.
Als sich die Party gegen 2 auflöste und Martin mich fragte, ob ich mit ihm und Konny noch ins Bergwerk zum Tanzen käme, schloss sie sich als einziges Mädchen an. Wahrscheinlich hatte sie zu viel Energie, sagte ich mir für einen Moment. Oder sie wollte mir dabei zuschauen, wie ich Martin und Konny beim Knutschen zuschaute. Doch sie schaute mir nicht dabei zu, sondern tanzte mit mir. In ihrem Spaghettitop sah sie hinreißend aus. Wobei es das Wort hinreißend in meinem Vokabular damals noch nicht gab. Stattdessen benutzte ich geil. Was ich ihr natürlich nicht verriet. Sie sollte nicht denken, dass ihr Aussehen für mich eine Rolle spielte. Später am Abend, oder am frühen Morgen, Martin und Konny waren längst gegangen, und alle anderen auch, saßen wir uns im Bergwerk gegenüber, der DJ packte seine CDs zusammen, schaltete das Licht an, da sagte sie mir: „Stephan, du hast schöne Augen.“ Warum sagte sie das? Ich wusste schon wieder nicht, was ich antworten sollte: „Ich weiß!“ Oder: „Das müssen andere entscheiden!“ Oder: „Das haben mir schon viele gesagt.“ Aber das hatte mir noch niemand gesagt. Darum antwortete ich: „Äh, äh, äh, äh, äh ...Wollen wir gehen?“
Als wir nebeneinander den Weinbergsweg hochliefen, fiel mir endlich eine gute Antwort ein: „Es riecht hier genauso wie letztes Jahr.“ „Achtest du auch auf Gerüche?“, fragte sie. Und ich antwortete: „Äh, äh, äh, äh, .... äh, kann sein. Äh, äh...“, was vielleicht auch daran lag, dass sie in der Zwischenzeit meine Hand genommen hatte, was ich aber, mangels Erfahrung, erst merkte, als wir die Schwedterstraße 49 erreichten, wo ich damals wohnte. Warum hatte sie meine Hand genommen? Es gab nur eine Erklärung. Die Pfützen auf den Gehwegen waren gefroren und der Boden darum an manchen Stellen glatt. Sie wollte nicht ausrutschen. Oder gab es doch noch eine zweite Möglichkeit? Sie hatte vorhin Alkohol getrunken und war unsicher auf den Beinen.
Als wir das Haus betraten, ließ ich ihre Hand los: „So, da ist ein Geländer. Da kannst du dich festhalten.“, lallte ich. Denn auch ich hatte Alkohol gertrunken. Möglicherweise mochte sie mich doch, sagte ich mir, als sie mich fragte, wo sie schlafen könne. Zumindest ein wenig. Wahnsinn! Jetzt durfte ich es nicht verkacken. Wahrscheinlich würde ich es verkacken. „Also“, flüsterte ich, denn meine Eltern schliefen nebenan: „Du kannst ins Hochbett und ich schlafe hier unten auf der Matratze. Oder umgekehrt.“ „Wir können auch beide ins Hochbett. Du musst nicht extra die Matraze hinlegen. Und neue Bettwäsche rausholen.“ „Für dich lege ich die Matratze gerne hin und hole ich gerne Bettwäsche raus.“ „Ich komme auch gerne mit dir hoch.“ „Musst du nicht.“ Vermutlich fühlte sie sich von mir unter Druck gesetzt, weil sie annahm, ich würde ihr Interesse nur erwidern, wenn sie heute noch mit mir Sex hatte. Aber so war ich nicht: „Nee, lass mal! Ist auch sehr eng zu zweit.“, blieb ich standhaft. „Wir machen Papier, Schere, Stein. Und wer gewinnt, darf ins Hochbett.“ Ich gewann.
Als ich oben lag und wir schwiegen, kamen mir Zweifel. Hatte sie meine Botschaft vielleicht falsch verstanden? Ich wollte ihr doch nur zu verstehen geben, dass ich nicht gedachte, gegen ihren Willen über sie herzufallen. Dass ich ihr all die Zeit lassen wollte, die sie brauchte. Ich hatte zwar noch nie eine Freundin gehabt, aber aus Jugendmagazinen wusste ich eine Menge. Ob ich mich revidieren sollte? „Kannst jetzt doch hochkommen.“ Oder sollte ich lieber anbieten? „Ich komm runter.“ Und wenn wir uns nicht einigen konnten? Machten wir dann wieder Papier, Schere, Stein? Unsere Beziehung war jetzt schon total kompliziert, obwohl sie noch nicht mal begonnen hatte. Ich verhielt mich jetzt schon unglaublich peinlich. Mit Sicherheit sah sie das genauso.
„Du Nina. Tut mir leid, dass ich dich zurückgewiesen habe. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich finde dich wirklich total hübsch und schön und interessant und witzig und süß und so. Einfach perfekt für ein Mädchen. Auch geil natürlich. Aber ich bin einfach noch nicht über die hinweg, in die ich zuletzt verliebt war.“ Diese Erklärung würde sie verstehen. Nach einigen Tagen würde ich ihr mitteilen, dass ich jetzt über die andere hinweg sei und bereit, mit ihr zusammen zu sein. Nina verstand meine Erklärung. Aber anders. Sie blieb nicht zum Frühstück, was ich nocht ok fand, denn meine Eltern waren für geöhnlich bei dieser Mahlzeit ebenfalls zugegen.
Als wir uns einen Monat später das nächste Mal trafen, besuchte ich gemeinsam mit Gardis, Claudia und Kerstin die Lange Nacht der Nibelungen in der Volksbühne. Nina erschien in Begleitung ihres neuen Freundes. Mein Magen zog sich zusammen. Ich fing an zu schwitzen. Ich spürte einen Stich im Herzen. Sie hatte mich also den ganze Abend nur verarscht. Sie hatte den ganzen Abend nur mit meinen Gefühlen gespielt und nie etwas für mich empfunden.
Zwei Jahre dauerte es, bis ich den Mut aufbrachte, mich erneut einer Frau zu öffnen. Doch das Trauma bleibt. Zehn Jahre bin ich jetzt mit meiner Freundin zusammen. Wir wohnen zusammen und haben zwei Kindern. Trotzdem bin ich mir bis heute nicht sicher, ob sie es ernst meint oder ob ich für sie nur ein Abenteuer bin. Selbst gegenüber unserer fünfjährigen Tochter bin misstrausisch. „Papa. Ich werde immer bei dir wohnen bleiben.“, hat sie mir letztens erklärt. Ich hab sie ernst angeschaut. Und statt sie zu drücken, habe ich geantwortet: „Ich mag es nicht, wenn man mit meinen Gefühlen spielt. Wir sprechen noch mal drüber, wenn ich 85 bin und du mir jeden Tag viermal den Urinbeutel wechseln musst.“
© Stephan Serin, 09.12.15